OCR
Hugo Breitner und Otto Leichter, zwei Biographien Die Lücken der österreichischen Geschichtsschreibung sind endlos. Ein Beispiel dafür sind die beiden im Jahr 2000 publizierten grundlegenden Studien über zwei bedeutende Persönlichkeiten der österreichischen Sozialdemokratie, Hugo Breitner und Otto Leichter. Der Wiener Finanzbeamte Wolfgang Fritz hat mit seiner materialreichen, auf zahlreichen, teils unpublizierten und genau zitierten Dokumenten und Erinnerungen basierenden Untersuchung die längst fällige Würdigung des Lebenswerkes des legendären Wiener Finanzstadtrats Hugo Breitner vorlegt. Breitner war durch seine Steuergesetzgebung und Sanierungsmaßnahmen der eigentliche Schöpfers des berühmten Roten Wien, wie ihn sein Freund Wilhelm Ellenbogen bezeichnete, und der Retter der Stadt Wien nach der politischen und wirtschaftlichen Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Wolfgang Fritz beschreibt nicht nur die eindrucksvollen politischen und wirtschaftlichen Leistungen Breitners, sondern auch die infamen und antisemitischen Angriffe der Opposition, in Revolverblättern, deren Titel heute kaum mehr bekannt sind. Einzig Breitners großbürgerlicher Lebensstil bot Angriffsflächen für diese Attacken. Im Februar 1934 wurde Breitner nach der Niederlage der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im österreichischen Bürgerkrieg verhaftet; er blieb bis zum Mai in Einzelhaft; danach wurde er freigelassen. Er wurde jedoch weiterhin polizeilich überwacht, 1935 wurde das gegen ihn eingeleitete Strafverfahren eingestellt. 1938 emigrierte Breitner über Italien und Frankreich nach New York. Der letzte Teil des Buches von Wolfgang Fritz ist eine der in der österreichischen Literatur eindringlichsten Bechreibungen des Elends und der Einsamkeit des Exils. Die Zeit in New York nannte Breitner die schlechteste seines Lebens. Er litt besonders unter dem heißen Klima und konnte trotz aller Bemühungen keine Arbeit finden. In einem Brief an Fritz Adler nannte er die täglichen Fahrten in der Subway ,, Vorstufen zur Holle“, die er absolvieren mußte, um seine „rund 60 Empfehlungsbriefe an den Mann oder an die Frau zu bringen, in der Hoffnung, auf diese Weise zu einem Job zu gelangen.“ 1939 erhielt Breitner eine research fellowship in einem College des kleinen kalifornischen Städtchens Claremont, um eine Arbeit über die Wiener Stadtverwaltung von 1918 bis 1934 zu verfassen. Dies ermöglichte ihm zwar ein bescheidenes Auskommen, aber die Studie konnte er, da er weit und breit in keiner Bibliothek die dafür notwendige Literatur fand, nicht schreiben. Andere Versuche der Existenzsicherung scheiterten; von 1942 bis zu seinem Tod 1946 arbeitete Breitner schließlich als Buchhalter bei einer Claremonter Firma. In all den Jahren im Exil ist die unstillbare und durch keine Enttäuschung austreibbare Sehnsucht nach Österreich Breitners in seinen Briefen belegbar. An den ebenfalls exilierten und nicht zurückgekehrten Wilhelm Ellenbogen schrieb er im April 1945, „daß ich mich zu jedweder Art von Mitarbeit drüben voll und ganz zur Verfügung stelle. Ohne Titel und Posten ... Wenn ich den Rest meines Lebens im Dienste des Sozialismus verbrauchen könnte, wäre es der schönste Abschluß.“ An den früheren Wiener Bürgermeister Karl Seitz schrieb Breitner im Oktober 1945, daß er „ein gewisses Maß an Erfahrungen“ und „ein Stück Vertrauen“, das er in 25 Jahren sammelte, „mit der denkbar größten Bereitwilligkeit hiedurch der Partei zur uneingeschränkten Verfügung“ stelle: „Ich überlasse es vollkommen Ihnen, ob und wie Sie davon Gebrauch machen ... meine Energie ist ungebrochen. Ich bin voll von Arbeitsfreude.“ Aus Karl Renners Antwort im Dezember 1945, die Wolfgang Fritz nicht direkt zitiert und die sich offensichtlich nicht erhalten hat, geht in den Worten Breitners hervor, daß nicht die Absicht besteht, „meine Rückreise durch irgendeine Einwirkung zu ermöglichen.“ Breitner starb in den USA im März 1946 im Alter von 69 Jahren, ohne daß er Wien wieder gesehen hätte. Vier Tage vor seinem Tod erhielt er einen Brief von Karl Seitz, in dem dieser den Wunsch ausdrückte, ihn bald in Wien zu sehen. Breitner kommentierte ihn mit den Worten: „Das ist etwas zu spät für mich.“ Die Arbeiter-Zeitung veröffentlichte einen verlogenen Nachruf, in dem es hieß: „Die Sozialistische Partei, der er seine Mitwirkung anbot, hat Breitners Absicht [zurückzukehren] mit großer Freude begrüßt und alles zu ihrer Verwirklichung getan ...“ Auch Otto Leichter blieb im Exil seiner früheren Heimat emotionell zutiefst verbunden. Der sozialdemokratische Journalist Otto Leichter, der ab 1925 als Redakteur der ArbeiterZeitung und nach dem Februar 1934 für die Revolutionären Sozialisten arbeitete, flüchtete 1938 mit seinen beiden minderjährigen Söhnen Heinz (Henry) und Franz nach Frankreich. Seine Frau, die bekannte Sozialwissenschaftlerin und Politikerin Käthe Leichter, blieb wegen ihrer Mutter in Wien, wurde nach einem Verrat verhaftet, ins KZ Ravensbrück deportiert und im März 1942 in Bernburg/Saale mit Giftgas ermordet. Otto Leichter verbrachte 1947/48 ein Jahr in Wien, ohne daß ihm eine seiner Meinung nach angemessene Stellung angeboten wurde. Er wollte nur mit einer konkreten, offiziellen Aufforderung und mit dem Gefühl, gebraucht zu werden, zurückkehren. Leichter war jedoch zu links für die nach 1945 veränderte Partei, kämpfte „gegen die Welle antirussischen Fühlens“ und kehrte daher nach New York zurück, wo er als Auslandskorrespondent zum Beobachter aus der Ferne wurde. Die Studie von Christian Fleck und Heinrich Berger dokumentiert wichtige, bisher unveröffentliche und private Dokumente der Familie Leichter, darunter Aufzeichnungen, die von den Nazis aus der Pariser Wohnung Otto Leichters geraubt, im Laufe des Zweiten Weltkrieges aus Berlin und Schlesien ausgelagert und von den Sowjets nach 1945 nach Moskau verschleppt wurden, wo sie sich bis heute im beühmten Sonderarchiv befinden. Die Autoren ergänzten ihr Buch durch einige allgemeine Überlegungen und Dokumente zur Haltung der Partei zu ihren Exilanten. Sie kommen zu dem Resümee: „Verjagt oder tot, einerlei: sie waren nicht mehr Teil der Bezugsgruppe des Sprechenden [Adolf Schärf], sondern bloß noch Teil einer vergangenen Geschichte ...“ Christian Fleck und Heinrich Berger schrieben damit ein Stück kritischer Parteigeschichte, was einige frühere Funktionäre gerne verhindert hätten. Denn sie berichten auch, daß bei den Materialien im Parteiarchiv der SPÖ deutliche Spuren von Säuberungen sichtbar waren. E.A. Wolfgang Fritz: Der Kopf des Asiaten Breitner. Politik und Ökonomie im Roten Wien. Wien: Löcker Verlag 2000. 559 S. DM 80,Christian Fleck, Heinrich Berger: Gefesselt vom Sozialismus. Der Austromarxist Otto Leichter (1897-1973). Frankfurt am Main: Campus Verlag 2000. 226 S. DM 58,— Die Haider-Show Die österreichische Politik steht seit zu langer Zeit unter dem Bann der Figur Jörg Haider. Er und seine extrem rechte Partei verstanden es, die politische Initiative an sich zu reißen, und die meisten anderen politischen Kräfte erschöpften sich weitgehend darin, darauf zu reagieren. Etliche Nachrichtenmagazine leben wesentlich davon, jede seiner Äußerungen zu rapportieren und sich unerhört „kritisch“ an ihnen aufzugeilen. Haider beherrscht die Medien- und Propagandaklaviatur gut. Wenn das Interesse an ihm erlahmt, setzt er eine Provokation oder attackiert gezielt einen politischen Gegner. Mit aufdringlichen Provokationen und furchterzeugenden Klagen vernebelt er die österreichische Innenpolitik, die nach eineinhalb Jahren schwarz-blauer Koalition eigentlich nur mehr auf die Namen „Sparen“ und „Rache“ hört. Die neoliberale EU-Wirtschaftspolitik wird pedantisch umgesetzt; ein Elitentausch wird energisch mit allen Mitteln betrieben. Ottomeyers Buch versucht, in gutem und knappem Stil und auf verständliche Weise, die sozialpsychologischen Hintergründe, die den politischen Erfolg der Figur Haider bewirken, freizulegen. Das Verständnis dieser Hintergründe würde die Opposition nicht so plump in die von Haider aufgestellten psychologischen Fallen rennen lassen. Der Grundgedanke des Buches ist, daß Haider ein politischer Schauspieler ist, der über ver83