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kannten „Wie haben wir es denn heute?
Geht’s uns gut, ja?“ und dem weniger bekann¬
ten „Sind wir noch immer bös auf Österreich
oder haben wir es schon vergessen?“
Elisabeth Welzig und Ernst Kilian mögen mir
verzeihen, daß ich gerade bei der Bespre¬
chung ihres Buches die Gelegenheit ergreife,
gegen den „geriatrischen Umgangston“ mit
dem Exil zu protestieren.
Einige sprachliche und sachliche Unzu¬
länglichkeiten des Buches müssen nichtsde¬
stotrotz erwähnt werden. Auf S. 145 wird
behauptet, daß die SPÖ bei den National¬
ratswahlen im November 1945 84 Mandate
errungen habe; es waren nur 76. Und die
KPÖ schied als Wahlverliererin nicht erst
1947, sondern schon im Dezember 1945 aus
der österreichischen Bundesregierung. Derlei
findet sich mehr.
S. 26 wird von der Synagoge in der Turner¬
gasse, die Kurt Steiner in seiner Jugend be¬
suchte, gesagt, „nur eine Gedenktafel hält die
Erinnerung“ (an sie) wach“. In ZW Nr.
4/2001 wurde ausführlich dargelegt, daß die¬
se Gedenktafel die Erinnerung eben nicht
wach hält, weil sie so versteckt angebracht ist,
daß sie kein Vorübergehender sehen kann.
Das klingt kleinlich; aber kann man es ruhig
hinnehmen, daß ausgerechnet in einem Buch,
das sich mit einem Exilierten beschäftigt, be¬
schönigt und verwischt wird? Wenn es auch
nicht aus böser Absicht, sondern aus
Unkenntnis geschehen ist? Flott wird auch S.
153 schulbuchpatriotisch formuliert: „Die
große Koalition, die dem Land die Freiheit
und den Aufschwung gebracht hatte ...“
„Trotz der bescheidenen räumlichen Verhält¬
nisse“, heißt es S. 19 über die Wohnung der
Familie Steiner in Wien, „verzichtete man
nicht auf ein Symbol bürgerlicher Kultur: Im
Speisezimmer stand ein Bösendorfer-Flügel,
der auch“ (zum Klavierspielen, wie weiter
unten hervorgeht) „genützt wurde.“ Wenn auf
dem Klavier also gespielt wurde und es nicht
bloß dazu diente, Besuchern vorgeführt zu
werden, wird es wohl mehr als ein Symbol
gewesen sein. Aber in der Rede vom „Symbol
bürgerlicher Kultur“ in einer Wiener jüdi¬
schen Wohnung vor 1938 steckt noch ein an¬
derer, bitterer Kern. Es liegt für mein Gefühl
darin etwas Herablassendes gegenüber den
kulturellen Ambitionen und dem Bildungs¬
eifer der kleinen Leute jener Zeit. Die nicht
nur symbolische, sondern durchaus reale
und wesentliche Teilhabe der Wiener Juden
am kulturellen Geschehen der Zwischen¬
kriegszeit darf nicht nur im Kontext eines
letztlich gescheiterten Bemühens um As¬
similation und eines Versagens „bürgerlicher
Kultur“ angesichts der Nazibarbarei verstan¬
den werden.

Konstantin Kaiser

Elisabeth Welzig, Ernst Kilian: Zwischen den
Welten. Kurt Steiner: Ein Wiener beim
Tokioter Kriegsverbrecherprozeß. (Mit Perso¬
nenregister.) Wien: Mandelbaum 2002. 172 S.
€ 18,90

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Leo Spitzers Beitrag zur
Rekonstruktion der österreichi¬
schen Emigration in Bolivien

Aufgrund der liberalen Immigrationspolitik
Ende der dreißiger Jahre ließen sich über
20.000 Immigranten zwischen März 1938
und Ende 1939 vorwiegend in den urbanen
Zentren Boliviens, in La Paz oder in
Cochabamba nieder. Einige Jahre zuvor hatte
der Minenbesitzer Mauricio Hochschild kurz¬
lebige jüdische Kolonisationsprojekte auf ur¬
bar zu machendem Land organisiert, 1939 ein
Hilfskomitee ins Leben gerufen. Bolivien fun¬
gierte als temporäres „Hotel“: Das Gros der
Flüchtlinge migrierte nach dem Zweiten
Weltkrieg in die USA oder in lateinamerika¬
nische Staaten weiter, die über dichtere
Netzwerke von europäischen Immigranten
und Organisationen sowie über schichtkon¬
forme Arbeitsmöglichkeiten verfügten.

Auch die Familie Leo Spitzers, eines US¬
amerikanischen Historikers österreichischer
Herkunft und Emigranten der „zweiten Gene¬
ration“, entschied sich nach sechsjährigem
Aufenthalt im Hotel Bolivia für eine Weiter¬
reise in die USA. Die gleichnamige Publi¬
kation resultiert zunächst aus der langjährigen
Rekonstruktion der Familiengeschichte des in
La Paz 1939 — kurz nach der Ankunft seiner
Familie — zur Welt gekommenen Autors. Das
Flüchtlingsschicksal der Familie Spitzer, die
nicht aus dem Wiener Großbürgertum
stammte, sondern im burgenländischen
Rechnitz vom Kleinhandel gelebt hatte, bietet
den Ausgangspunkt für die geschichtswis¬
senschaftliche Auseinandersetzung mit
Bolivien als Aufnahmeland.

Didaktisch geschickt werden die einzelnen
Rechercheschritte und Wahrnehmungsphasen
der Reise in die eigene Familienvergangen¬
heit transparent gemacht, wird dem Leser
eine Melange aus Familienbiografie und
Objektivierung durch kritische Quelleninter¬
pretation geboten. Spitzer montiert dabei un¬
terschiedliche Textsorten, die er durch den
Wechsel des Schrifttypus hervorhebt. Im
kursiv gedruckten Kapitel „Ella“ etwa ver¬
sucht er aus dem Geflecht von familiären
Mythen und Gerüchten Gründe für den
Selbstmord seiner Tante zu eruieren, die
durch ihre Verlobung in der Schweiz ihrer ge¬
samten Familie die lebensrettenden Visen
nach Bolivien beschaffen konnte. Der Freitod
Ellas nach ihrer Scheidung im Aufnahmeland
resultiert für Leo Spitzer aus einer weiteren,
diesmal gescheiterten Flucht: aus familiären
und gesellschaftlichen Zwängen innerhalb ei¬
ner kleinen Emigranten-Community.

Zur Dekonstruktion von Mythen und zur Re¬
konstruktion des familiären Gedächtnisses
über die Emigration zieht der Historiker sig¬
nifikante Symbole wie Fotos und Alben her¬
an. Sie sind Beispiele selektiver Wahrneh¬
mung und piktografische Kompositionen von
Elementen der Erinnerung an die mehrwö¬
chige (Schiffs-)Reise nach Bolivien. Da die

Fotos selbst die Gefährlichkeit der Flucht kei¬
neswegs festhalten, sondern eher den Ein¬
druck einer Vergnügungsreise in ein exoti¬
sches Land vermitteln, kontrastiert Spitzer die
Bildanalyse mit Berichten über den Unter¬
gang des vermutlich torpedierten Flücht¬
lingsschiffes Orazio auf dem Weg nach Chile,
bei dem 114 Menschen ihr Leben verloren.
Die symbolischen Manifestationen der Flücht¬
lingsidentität nennt Spitzer das „unsichtbare
Gepäck“ des kulturellen Gedächtnisses der
Emigranten und Emigrantinnen. Reliquien¬
funktion für das verlorene Österreich erhielt
etwa ein Gemälde des Stephansdomes, dem
auch in der New Yorker Wohnung der Eltern
Spitzer ein zentraler Platz im Wohnzimmer
eingeräumt wurde, für den Sohn diente es da¬
gegen als Verbindung zur zentraleuropäischen
Herkunft seiner Eltern.

Auch Hymnen sind bedeutende Elemente na¬
tionaler Identitäts-Inszenierungen. Der Autor
und Schauspieler Georg Terramare kompo¬
nierte nach der Melodie von Beethovens
Eroica die „Hymne der freien Österreicher“,
da die Haydn-Melodie von den Deutschen
„okkupiert‘“ worden war. Dirndl und Leder¬
hosen, vom austrofaschistischen Ständestaat
heftig verwendete Symbole des Bodenständi¬
gen, wurden 1947 auf dem Österreichfest in
La Paz als Bestandteile kulturellen Gedächt¬
nisses getragen, um die Wiedererlangung des
unabhängigen Österreich und damit nationa¬
le Kontinuität zu zelebrieren. Spitzer erinnert
sich der Symbole seiner eigenen sprachlichen
und kulturellen Sozialisation in La Paz, der
deutschsprachigen Kinderbücher Max und
Moritz, Struwwelpeter und der Märchen der
Gebrüder Grimm.

Fotos halten in ihrer Funktion als Texte den
von eurozentristischer Weltsicht geformten
Blick auf die autochthone Bevölkerung fest.
So dokumentieren Aufnahmen von „A day
trip to lake Titicaca“ und Interviewaussagen
von Zeitzeugen, wie Lateinamerikabilder der
Romantik weitertradiert wurden; die indigene
Bevölkerung der Quechua und Aymara galt
als Teil einer exotischen Natur, als „unzivili¬
siert“. Wie bereits Spitzers Historikerkollegin
Gerda Lerner in ihren Arbeiten festgestellt
hat, erhöhten die Emigration und der
Akulturationsprozeß im Aufnahmeland nicht
unbedingt die Sensibilität der Europäer für
marginalisierte Gruppen im Aufnahmeland.
Dass nicht nur die bolivianische Gesellschaft,
sondern auch die der europäischen (üdi¬
schen) Emigranten in beruflicher und kon¬
fessioneller Hinsicht eine äußerst heterogene
und konfliktbeladene war, wird von Spitzer
bereits eingangs betont. Ressentiments von
assimilierten österreichischen Juden gegen¬
über den Ostjuden transferierte man ins
Aufnahmeland.

Der Autor richtet seine Publikation zunächst
an ein US-amerikanisches Publikum. Das
zweite Kapitel fasst die gesellschaftlichen
und historischen Hintergründe in Österreich
ab dem März 1938, die Organisation der Aus¬
wanderung und die Schwierigkeit der Visa¬