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ihre Schulzeit in Baden schreibt, über antisemitische Mitschüler¬
Innen und LehrerInnen, Übergriffe, Prügeleien, Beschimpfungen,
über eine Atmosphäre von Hass und Gewalt, die schließlich zur
manifesten Bedrohung und nach der Machtübernahme der Nazis
zur Lebensgefahr für die Opfer wird, gehört zum psychologisch
Differenziertesten, was ich bis jetzt zu diesem Thema gelesen habe.
Es folgen die Erfahrungen von Emigration und Heimatverlust,
die Auseinandersetzung mit der eigenen brüchigen Identität, mit
Erinnerungen, Verletzungen und Traumata, mit den Eltern, mit
anderen MigrantInnen und ehemaligen Mitschülerinnen. Beschrie¬
ben wird auch die Entfremdung von der eigenen Muttersprache
und die graduelle Wiederannäherung an die deutsche Sprache
viele Jahre später, die ambivalente Einstellung zu Österreich, die
Zwiespältigkeit des Gefühls (zwischen Ablehnung und Neid) ge¬
genüber jenen Exilierten, die nicht wie Kollisch selbst als Kinder,
sondern erst als Erwachsene vertrieben wurden, sich aber ihrer
kulturellen Wurzeln und ihrer Liebe zur österreichischen Kultur
weiterhin sicher geblieben waren. Ihr selbst hingegen wurde „die
Muttersprache sozusagen mit der Zunge herausgerissen“. Oder —
anders ausgedrückt — man hat ihr den Ort weggerissen, an dem
sie [nämlich die Muttersprache] gesprochen wird.

Kollischs Texte machen „die Spannung zwischen Sehnsucht und
unverheilten Wunden sichtbar [...], in der die meisten Emigranten
leben“, schreibt Anna Mitgutsch im Nachwort zu Der Boden unter
meinen Füßen. Und Ruth Klüger formulierte in ihrer Begründung
zur Verleihung des Theodor Kramer Preises 2012 an Eva Kollisch:
„Eva Kollisch hat uns gezeigt, was Exil bedeutet, schon bevor man
ins Ausland muss. Sie hat aufs Eindringlichste geschildert, was
Kinder einer Minderheit erleben, wenn sie ausgegrenzt werden. Sie
hat uns eine ungenügend bekannte Schattenseite von Österreich
vor dem Anschluss vorgeführt, aus der hellwachen Perspektive
eines Kindes, dem der Boden unter den Füßen entzogen wurde.“

Was darüber hinaus die Qualität des Schreibens von Eva Kollisch
ausmacht, ist die schon eingangs erwähnte Haltung, mit der sie
die Welt betrachtet, und demzufolge die Art und Weise, wie ihre
Texte gestaltet sind:

Dazu gehört in erster Linie die (manchesmal auch bittere)
Ironie, mit der vieles, besonders aber die erlittenen Kränkungen
geschildert werden. „In einer Schlägerei trifft das alte Sprichwort
zu: Geben ist seliger denn nehmen“, heißt es zum Beispiel. „Aber
wir waren immer in der Minderheit. Zum Klang von Jud, Jud
spuck in Hut, sag der Mutter, das ist gut wurden wir gejagt und
fast immer niedergeschlagen.“ Oder: Die Abneigung, welche
säkulare österreichische Juden den strenggläubigen jüdischen
Zuwanderern aus Polen in den 1930er Jahren entgegenbrachten,
bringt Eva Kollisch folgendermaßen auf den Punkt: „Sogar Nicht¬
Zionisten begannen überschwänglich vom jüdischen Heimatland
zu schwärmen, wenn es darum ging, dass eine der polnischen
Familien dorthin auswandern wollte.“

An zweiter Stelle ist der behutsame, kritisch distanzierte, aber
keineswegs abgeklärte Umgang mit den eigenen Erinnerungen
zu nennen. „Obwohl das, was ich wachzurufen versucht habe,
wirklich geschehen ist, musste vieles neu erfunden werden, um
wahr zu werden“, bemerkt Eva Kollisch treffend. Eine siimmige
Erfindung kann manchmal authentischer sein als die brüchige
Oberfläche dessen, woran wir uns zu erinnern glauben. Doch
gerade die Wahrhaftigkeit einer Erfindung, die damit verbunde¬
ne Freiheit und Möglichkeit zur kunstvollen Gestaltung, kann
die Voraussetzung dafür sein, dass aus einem Erinnerungstext

Literatur entsteht, dass aus Persönlichem Allgemeingültiges und
Exemplarisches wird. Eva Kollisch ist dies sowohl in ihrem Roman
Mädchen in Bewegung als auch in Der Boden unter meinen Füßen
wunderbar gelungen.

Drittens möchte ich Kollischs Sprache erwähnen. Es gelingt der
Autorin komplexe Zusammenhänge, Widersprüche und difhizile
Gefühlsregungen in eine klare und poetische Sprache zu setzen,
ein wunderschönes, elegantes amerikanisches Englisch, in dem
aber dennoch oftmals der Tonfall, die Atmosphäre und Idiomatik
des Österreichischen erkennbar sind. In Kollischs differenzierten
und einfühlsamen Porträts ist dies besonders deutlich zu spüren,
zum Beispiel in jenem ihrer Mutter und dem des Vaters, die wir
beide heute — wiewohl nicht im Original, sondern in deutscher
Übersetzung — hören werden.

Erlauben Sie mir bitte abschließend, auf ein Kapitel in Der Boden
unter meinen Füßen einzugehen, in dem die Auswirkungen von
Ausgrenzung und Nichtzugehörigkeit, die Nachhaltigkeit dieser
Erfahrung, wohl am eindringlichsten beschrieben werden: Ge¬
meinsam/Allein ist der bezeichnende Titel diese Geschichte. Darin
wird von einer Konferenz der American Kindertransport Association
mehrere Jahrzehnte nach dem Krieg erzählt: ein Treffen, an dem
auch Eva Kollisch teilnimmt. Die einstigen jüdischen Kinder,
die 1938 und 1939 mit so genannten Kindertransporten aus
dem NS-Reich nach England flüchten konnten, sind zu diesem
Zeitpunkt schon ältere Menschen. „Die Bereitschaft, ehrlich über
sich selbst zu sprechen, ist eine Grundvoraussetzung dieser Treffen,
wenn auch das Hauptinteresse der Vergangenheit gilt“, schreibt
Eva Kollisch.

Jeder hat von Verlusten und Traumata zu berichten. Wie die
Gespräche zeigen, scheinen für die meisten, „die langen Jahre der
Sicherheit in Amerika immer noch ein bisschen unwirklich“ zu
sein. Eva Kollisch fühlt sich diesen „Entfremdeten“, von denen
viele die „Normalität“ nur zu imitieren verstehen, sehr nahe. Und
doch gibt es einen Punkt, über den sie sich mit ihnen nicht zu
reden traut, nämlich über ihre Bezichung zu einer Frau. „Würden
sie mich mit anderen Augen ansehen, wenn sie wüssten, dass
ich lesbisch bin?“, fragt sie sich. „Aber warum ist das hier von
Bedeutung?“, fragt sie sich gleich darauf. „In einer Gruppe, wo
wir alle Überlebende sind, und der Holocaust alles überschattet?“
Dennoch hat sie Angst: Angst, zurückgestoßen, nicht akzeptiert,
verhöhnt, wieder in die Außenseiterposition gedrängt zu werden
— sogar hier, unter Menschen, die dasselbe erlebt und durchlitten
hatten wie sie, wird sie diese Angst, die ihr Leben stets begleitet,
nicht los. Gleichzeitig schämt sie sich dafür, dass sie sich verstellt.

Etwas später, bei einem anderen Treffen, in einer etwas kleine¬
ren Runde, „outet“ sie sich schließlich doch und ist erleichtert.
„Niemand“, schreibt sie, „hatte auch nur mit der Wimper gezuckt.
[...] Dennoch hatte ich die johlende Menge gefürchtet, wie ich
es immer tue.“

Diese Furcht vor der „johlenden Menge“ wird wohl niemals
vergehen. Eva Kollischs Schreiben zeigt allerdings, wie man der
Furcht immer wieder mit Aufrichtigkeit begegnen und wie man
- trotz allem — ein engagiertes und erfülltes Leben führen kann.
Eva Kollischs Bücher machen Mut!

Oktober 2012 21