die Hand gab. Wenige Tage danach fand Emmis Begräbnis statt.
Josef Sirowatka war in Lackenbach als Gendarm angestellt ge¬
wesen. Bald nach seiner Heirat erfolgte die Versetzung ins südliche
Rechnitz, wo er ein paar Jahre verblieb. Plötzlich, von einem Tag
zum nächsten, hatte er diesen Posten zu räumen und zugleich sein
Elternhaus hier. In Uniform, stolz und gerade, schritt er mit Frau
und den zwei kleinen Töchtern die heimatliche Gasse hinunter,
um in einem wartenden Auto zu entschwinden. Zurück blieben
verängstigte, kranke Eltern. Und waren diese bislang verschlossen
gewesen, so verloren sie ab nun kein Wort mehr.
Etliche Wochen hindurch hielt sich nach dem Ereignis ein hef¬
tiger Tratsch in den Gassen: Versetzt, der ist weg, geschieht dem
Kommerl ganz recht/ Im Gegenteil, der Nazi ist jadamals beteiligt
gewesen/ Nie, da war der noch nicht aus dem Krieg zurück/ Was
hat der Herr Gendarm da unten nach den Juden zu stierln gehabt,
seien wir froh, dass die weg sind...
Siebzig Jahre später und ein paar Medienberichte mehr. Ob es Zeit
ist für die Geschichte? Wiener Studenten als Nazi-Jäger!, stand zu
lesen. Wieder eine Kreuzstadelgeschichte. Und die eigene wieder
verdrängen?
Wieder das erschiitternde Filmdokument Totschweigen gesehen.
Auf Befehl eines Nazibonzen, der zum Héhepunkt eines NSDAP¬
Gelages im Schloss Rechnitz geraten sollte, in Anwesenheit der
Schirmherrschaft, Graf & Gräfin Batthyäny sowie Funktionäre und
Getreue der Kreisleitung Oberwart, betraut mit dem Südostwallbau,
werden im März 1945 schnell noch ein paar ungarische Juden, die
sich als zu krank oder zu erschöpft für den Einsatz an diesem Bau
erwiesen haben, weggeputzt, mehr als 180 sollen es gewesen sein.
Noch haben sich alle Anzeichen des Zusammenbruchs des „Tau¬
sendjährigen Reiches“ erfolgreich wegsaufen lassen, bis unter Orts¬
gruppenleiter Franz Podezin und einem Trupp an Festgästen beim
Stadel das Abschießen seinen Lauf nehmen kann. Hilferufe und
Todesschreie sind in der Nacht nicht zu überhören, der Knall jedes
einzelnen Schusses dringt durch die dicksten Mauern. Nach getaner
Arbeit kehrt man erfrischt und aufgeweckt zum Schlossgelage zurück.
Die 18 verschonten Juden, die die Toten zu verscharren haben,
werden anderntags erschossen. Das Grab dieser Totengräber wird
von den russischen Besatzern entdeckt, wie auch das Massengrab
selbst. Trotz zahlreicher Suchaktionen und Grabungen ist es bis heute
nicht wiederzufinden. Bis Anfang der 1950er weiß man Bescheid.
Nach einigen harmlos verlaufenden Prozessen setzt das Schweigen
ein, ein bis heute währendes Totschweigen. Aufrufe und Bitten
um Hinweise der jüdischen Kultusgemeinde scheitern bis heute.
Einige Gerichtsprozesse betreffend die Causa Kreuzstadel. 1948:
Zwei aussagewillige Zeugen sind plötzlich tot (ermordet) — die
Warnung, wir meinen es ernst. Etliche im Sand verlaufende Pro¬
zesse. Prozesseinstellungen. Etliche Freisprüche und Amnestien.
Der Prozess gegen Ortsgruppenleiter Franz Podezin verläuft im
Sand. Im Schutz der Batthyänys gelingt ihm das Untertauchen.
Der Prozess wird 1949 auch dem Gauleiter Tobias Portschy,
Dr.jur., gemacht. So schnell wie gründlich hatte er die Fäden in
Sachen Säuberung von Zigeunern und so Gesindel gezogen. Zu
15 Jahren Gefängnis verurteilt, kommt er nach zwei Jahren frei.
Amnestie. Danach in hohen Gremien tätig, Bankaufsichtsrat und
anderes mehr, allem voran angeschener Bürger, 1996 verstorben:
„Ich bekenne mich zu meiner Vergangenheit! Ich bereue nichts!“
Ein zynischer Sager in dieser beschädigten Region. Legitimiert
und bestärkt durch die einhellig schweigende Mehrheit? 70 Jahre
Schweigen. Jede Zukunft hat eine lange Vergangenheit, heißt es
bei Jean Ziegler.
Als sich abzeichnet, dass der Ermittler Sirowatka in der Causa
Kreuzstadel zur Gefahr werden kann, wird er abgezogen. Entfernt.
Wo er ist, wo er lebt — und ob noch -, weiß keiner zu sagen, viel¬
leicht die Eltern. Die jedoch schweigen. Ein beschädigtes Leben
ab Abtransport — bis zum Tod. Diskriminierungen, die selbst noch
die Kinder zu tragen haben. Josef Sirowatka ist 1997 verstorben.
Er war nicht der Einzige, der den Kreuzstadel mit ins Grab ge¬
nommen hat.
Totschweigen: 1994. Film von Margarete Heinrich und Eduard
Erne. Musik Peter Ponger. Einer der wenigen, die auf Ernes Fragen
eingehen, ein Rechnitzer Gartner, spricht in der Filmdokumen¬
tation vom Ermittler Sirowatka wie auch von dessen Entfernung.
Mir selbst sagte Eduard Erne, dass während seiner Recherchen die
Jalousien in Rechnitz ständig herunter gerattert seien. Als er bei
Josef Sirowatka in Eisenstadt läutet, wird er eingelassen.
„Herr Sirowatka“, so Erne, „führt mich ins Kellerstüberl, sperrt
ab, hort mich an. Dann sagt er: Ich sage nichts. Wenn sie den Raum
hier verlassen, haben Sie nichts erfahren!“
„Mitten im Film dieser Riss: Plötzlich fällt unser Name! Bitte kei¬
ne Namen, nur E und K“, bitten mich die Sirowatka-Töchter.
Ein sonniger Sonntag. November. Wir sitzen im Cafe Steiner in
Eisenstadt. „Nichts, wir wussten nichts, sagt E, und setzt nach:
„Jedenfalls kein Wort vom Vater!“
„Auch nach dem Film ist die Sache ja nie vom Vater erwähnt
worden“, wirft Kein. „Unsere Kindheit? Hart, wahnsinnig hart,
der Vater ließ ja nichts zu, kaum Freundschaften, er hinterfragte
alles und jeden!“
„Aber eigentlich hat er uns erzogen“, ergänzt E, „die Mutter ist
ja ab der Versetzung nach Kittsee nicht mehr belastbar gewesen!“
(Damals tote Grenze/ Eiserner Vorhang). „Dabei — unser Vater
malte, schrieb Gedichte, war musisch hochbegabt, sagt K stolz:
„Wir haben von ihm viel gelernt!“
„Und dass seine Härte, sein Verhalten, geprägt von Angst war“,
sagt E leise in sich hinein, „dass er all die Jahre geschwiegen hat,
um uns zu schützen, das weiß ich jetzt!“
„Ich habe ihn nie verstanden“, stößt K’hervor, bemüht, die Tränen
zu verbergen, „ich verstehe ihn erst jetzt“.
„Nach den acht Jahren Kittsee die Übersiedlung nach Eisenstadt“,
ergänzt E. „Der Vater war ein Law & Order-Mann, ein Aufdecker,
er wurde aber ständig behindert, verhindert. Zwei Mal ins Minis¬
terium zitiert, war gezwungen gewesen, diese offenbar brenzligen
Fälle wieder abzugeben. Rechnitz! Gott, dieses Rechnitz. Rechnitz
bis zu seinem Tod, das weiß ich jetzt!“
„Wir spüren sie, diese Klammer“, wiederholt K bitter. „Was noch.
Andere demütigen, zerstören, umbringen und sich selbst mit sturem
Schweigen schadlos halten?“
Dine Petrik, geb. 1942, Burgenland, mit 17 Ubersiedlung nach Wien.
Abend-Handelsschule. Kunstschule Schillerplatz & Lazarettgasse. Lebt
seit 1990 als freie Autorin in Wien. Essays in Anthologien und diversen
Medien (Salzburger Nachrichten, Wiener Zeitung, Der Standard, Die
Presse). Bücher: Sonaten für Wasser und Wind (1990); Die Hügel
nach der Flut. Was geschah mit Hertha K.? (1997); Befragung des
Zorns (1999); Jenseits von Anatolien (2001); Bibliotheca Alexandrina
(2005); Podium-Porträt (2007); wortreich. verschwiegen (2009);
Die verfehlte Wirklichkeit (Biographie über Hertha Kräftner, 2011).