Ulrich, die sozialdemokratische Wiener Köchin der Wolfs, die
sich beide nie etwas zu Schulden hatten kommen lassen, auf den
„Brünner Todesmarsch“ geschickt.
Frida Wolf konnte glücklicherweise rechtzeitig von Eva Wolf
und ihrem damaligen Freund abgefangen werden. Anna Ulrich
war in der kurzen Zeit leider nicht mehr auffindbar und musste
unter widrigsten Bedingungen einen kilometerlangen Fußmarsch
nach Wien auf sich nehmen.
Trotz ihrer „miserablen Durchführung vonseiten der tsche¬
choslowakischen Regierung“ sei die Vertreibung nicht als Un¬
gerechtigkeit, sondern als legitimer Beschluss der Alliierten in
Potsdam anzusehen, denn, so Eva Morton-Wolf „90 Prozent*
der Sudeten- bzw. „Volksdeutschen“ waren HitleranhängerInnen
und haben die Okkupation im Herbst 1938 begeistert begrüßt.“
Eva Morton-Wolf glaubt nicht, dass ihre Aussagen etwas am
offiziellen Diskurs der Vertriebenen ändern werden: „Das Gros
der Vertriebenen sicht sich weiterhin als Opfer.“
Auf die Frage, wo sie sich denn nach all den langen Jahren im
Exil nun „zu Hause“ fühle, schmunzelt sie und meint: „Ich hab
keine Heimatgefühle in diesem Sinne wie vielleicht andere haben.
Dadurch, dass ich in so vielen Ländern war und so viele vollkom¬
men unterschiedliche Menschen um mich herum waren, hat mir
meine Vielsprachigkeit immer sehr geholfen, schnell Freunde
zu finden und mich wohl zu fühlen. Am ehesten noch fühle
ich mich dem Vielvölkerstaat der K.u.k-Monarchie heimatlich
verbunden, bin aber an vielen Orten der Welt zu Hause, also
Prag — Stadt der Mystik und der Magie, die Guillaume Apollinaire
begeisterte oder den Italiener Rippelino, wo Franz Kafka geboren
wurde und unzählige Touristen sein Grab besuchen. Allerdings auch
eine Stadt, wo Menschen lebten und leben wie überall in der Welt,
ihr Schicksal bestimmt durch Ort und Zeit. Wir fragten eine in der
ehemaligen Tschechoslowakei aufgewachsene Pragerin, was ihr so
einfällt zu diesem Thema.
„Ein Park und eine Straße im Stadtviertel Weinberge‘, war die
Antwort. „Ja, ich bin Pragerin, das weiß ich genau. Ich bin in der
Stadt an der Moldau geboren und kenne ihre vielen Gesichter. Das
der Geborgenheit mit dem Bravsein und dem An-der-Hand-geführt¬
werden, dem Im-Park-Spielen mit anderen kleinen Mädchen im
vom Gebüsch umgebenen Rondeau. Und ganz nahe, in der von
Klappsesseln gesäumten Allee des Riegerparks saßen die Mamas und
plauderten. Auf der Seite, die einen Ausblick auf den Hradschin bot,
waren immer alle Sessel besetzt, und das dürre Zettelfräulein hatte
immer alle Hände voll zu tun, um die paar Heller für die Sitzscheine
zu kassieren. Die Mamas plauderten deutsch und auch die kleinen
Mädchen gingen in eine deutsche Schule.
Im Park gab es noch zwei Spielplätze, einen großen, wo es laut
und gefährlich zuging, weil dort größere Jungen Fußball spielten,
und einen kleineren, wo auch Mädchen herumtollen konnten. Auf
dem großen Spielplatz wurde nur tschechisch gesprochen, auf dem
kleineren beide Sprachen. Die tschechischen Kinder spielten dort
zumeist „Nebe peklo rdj“. Das war auch unser liebstes Spiel, wir
nannten es „Himmel und Hölle“. Diese drei Vokabeln waren unsere
erste Lektion in Tschechisch.
So beginnt das Kapitel „Identität“ in meinem Büchlein
Miriam Aistleitner, geb. 1989 in Linz, studiert Transkulturelle
Kommunikation mit den Sprachen Deutsch, Tschechisch und Eng¬
lisch am Zentrum für Translationswissenschaft der Universität Wien.
Neben dem Studium arbeitet sie als Übersetzerin im Kultur- und
Umweltschutzbereich sowie als DaF/DaZ-Trainerin. Im Februar
2014 nahm sie an einem vom Tschechischen Zentrum Wien or¬
ganisierten Ubersetzungswettbewerb teil, bei dem sie Auszüge aus
Bohumil Hrabals Listopadovj Uragdn vom Tschechischen ins Deutsche
übersetzte. Ihre Übersetzungsleistung wurde von der Jury unter die
besten drei gereiht.
1 DI Dora Müller war Herausgeberin des Buchs „Drehscheibe Brünn“, in dem
sie das Schicksal der österreichisch-jüdischen EmigrantInnen-Gemeinschaft
im Brünn der Zwischenkriegszeit dokumentierte. Sie stand in engem Kon¬
takt mit der TKG.
2 1921 Minister unter T.G. Masaryk.
3 Aus: Thomas Mann: Deutsche Hörer! Europäische Hörer! Radiosen¬
dungen nach Deutschland. Hg. von der Europäischen Kulturgesellschaft
Venedig, Geschäftsstelle in der Bundesrepublik Deutschland. Darmstadt:
Darmstädter Blätter 1986, 82.
4 Wiewohl es auch einen sudetendeutschen antifaschistischen Widerstand
gegeben hat, vgl. Alena Wagnerovä (Hg.): Helden der Hoffnung. Die anderen
Deutschen der Sudeten 1935-1989. Berlin: Aufbau 2008.
„Begegnungen in Prag“. Natürlich könnte ich viel erzählen über
die Stadt, in der ich seit meiner Geburt lebe, aber — wo beginnen,
wo aufhören, um nicht immer dasselbe zu sagen von der magischen
Stadt, deren Topographie der Zweite Weltkrieg verschonte. Hrad¬
schin, Altstadt, Veitsdom, Altneusynagoge oder Wenzelsplatz, alles
ist noch da und nicht nachgebaut, wie in so vielen europäischen
Städten. Einen richtigen Bombenangriff erlebte eigentlich nur die
Straße, die ich seit meiner Kindheit so oft überquerte, um in den
Riegerpark zu gelangen. Sie ist das Herz des Stadtviertels königliche
Weinberge. Eine ehemalige Landstraße hinter den Stadtwällen,
vorbei an Feldern und Gehöften, die erst mit dem Aufbau eines
neues Stadtviertels einen Namen bekam. Das war in den Jahren
1884-1920. Heute heißt sie Vinohradskä — In den Weinbergen.
Aber ein Sommertheater, das später als Heinesaal in die Li¬
teraturgeschichte einging, gab es hier schon früher, so wie den
Tunnel mit dem Wunder der ein- und ausfahrenden Züge, oder
die alte Markthalle, die jetzt so schön renoviert wurde. Im Som¬
mertheater hatte 1896 das Drama des zwanzigjahrigen René Rilke
„Jetzt und in der Stunde unseres Absterbens“ Premiere — und fiel
durch. Vielleicht war dies der Anlaß, der dem Studenten, der sich
später Rainer Maria nannte, bewog, Prag und seine erste Liebe
Valerie von Rhonfeld zu verlassen, um nie wiederzukehren. — Vor
kurzem wurde im Prager Goethe-Institut ein Dokumentarfilm
mit der in London lebenden Nichte Franz Kafkas gezeigt. Einlei¬
tend erwähnte der Mitherausgeber von Kafkas Tagebüchern, dass
Kafka darin auch über den Heinesaal schreibt, besonders über
ein Purimfest jüdischer Kinder. Diese Kinderfeste tschechischer
und deutscher Schulen fanden fast bis in unsere Tage im von den