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Tschechen Heinovka genannten Saal statt. Heute wurden dort
Spielautomaten installiert und das Unternehmen heißt „Harle¬
kin“. Eines dieser Kinderfeste werde ich nie vergessen. Damals
wollte ich auch ein Gedicht aufsagen, aber die Klassenlehrerin
hatte meine couragierteste Freundin Grete ausgewählt. Bis heute
seh ich Gretl vor mir: Als Bub in Lederhosen, wie sie das Gedicht
„Ich bin der Hans im Glück“ aufsagt. Sie erntete viel Applaus
und ich habe sie sehr beneidet. Sehr. Jahre später habe ich ihren
Namen an der Wand der Pinkassynagoge unter den Opfern des
Holocaust gelesen...

In dieser Straße wohnten auch Literaten des sogenannten „Prager
Kreises“ wie der blinde, deutsch schreibende Schriftsteller Oskar
Baum, bekannt durch den Roman „Das Leben im Dunkeln“,
oder der Lyriker und Gynäkologe Salus. Seinen Sohn Wolfi, ei¬
nen Mitschüler meines älteren Bruders, habe ich gut gekannt.
Wolfi begeisterte sich mit etwa fünfzehn Jahren für Trotzki und
brannte in die Türkei durch, um sein Sekretär zu werden. Der
kluge Trotzki schickte den Buben zurück, und Wolfi begann
Gedichte zu schreiben, wie der Herr Papa. Später überlebte er
den Aufenthalt in einem KZ, kam zurück nach Prag und setz¬
te sich 1948 nach dem Februarputsch der Kommunisten nach
Frankreich ab. Mir wäre das fast zum Verhängnis geworden. Die
Staatssicherheit hatte ein Büchlein Lyrik gefunden, das er einst
mir gewidmet hatte. Daher besuchten mich bei den Dreharbei¬
ten in den Barrandov-Filmateliers zwei Herren, die mir ganze
Stöße von Fotos vorlegten, um den gefährlichen Trotzkisten (er
war schon längst Sozialdemokrat) zu identifizieren. Er war nicht
dabei. Gottseidank.

Aber zurück zu meiner Straße und ihren vielen für die Geschichte
unseres Landes so bezeichnenden Namen. In den späten Jahren
der Donaumonarchie schien den Stadtvätern der tschechische
Philologe Josef Jungmann, Autor eines tschechisch-deutschen
Wörterbuchs, besonders geeignet. Daher hieß sie von 1884 bis
1920 Jungmannstraße — Jungmannova.

Nach dem Weltkrieg und der Gründung der Tschechoslowakei
war der französische Marschall Foch, Sieger der Schlacht an der
Marne, der Richtige, um das gute Verhältnis des jungen Staates
zu Frankreich zu unterstreichen. Tatsächlich nannte man die
Straße während der ganzen Existenz der Tschechoslowakei, von
1920-1940, Fochova, volkstümlich „Fochovka“.

Im „Protektorat Böhmen und Mähren“ mußte von 1940-1946
ein preußischer Feldmarschall herhalten, der Grafvon Schwerin,
pommerischer Uradel, der im preußisch-österreichischen Konflikt
1744 Prag zur Kapitulation gezwungen hatte und 1757 bei Prag
gefallen war. Bei dem schon erwähnten Bombenangriff im Jahre
1945 wurden einige der schönen Mietshäuser der Schwerinstra¬
ße zerstört und bald danach war der Zweite Weltkrieg zu Ende.
Seither ist Prag eine rein tschechische Stadt. Ohne ihre deutschen
Schulen und Universitäten, ohne ihre Theater und auch ohne ihre
deutschen Einwohner.

1946 griff man bei unserer Straße noch kurz auf den nicht mehr
aktuellen Marschall Foch zurück und wie die Straße danach hieß,
haben sie wohl sicher erraten: natürlich Stalinova - Stalinstraße.
Bis zum Wenzelsplatz hinunter wälzten sich nun fahnenträchtige
Umzüge zur Oktoberrevolution und zu den Feiern des 1. Mai.

Als der Generalissimus nicht mehr „in“ war, besannen sich die
Stadtväter auf den einfachsten aller Namen, der auch im neuen
Jahrtausend nicht geändert werden mußte. Seit 1962 heißt sie
nun Vinohradskä — In den Weinbergen.

Nun, sie ist keine Sehenswiirdigkeit unserer an

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Sehenswürdigkeiten so reichen Stadt Prag, aber die mehr als
100-Jährige versteht es, mit den vielen Namen, die sie tragen
mußte, zu erzählen, wie sich das Leben gestaltete für die Men¬
schen, die in ihrem Umkreis lebten.

Helena Tomanovä-Weisovd, in Prag geboren, wuchs im Milieu
der deutschen Minderheit in Prag auf und hatte schon als Kind
Kontakt zu deutschsprachigen Prager Schriftstellern. Nach einer
Ausbildung an der Akademie für Musik und Darstellende Kunst
arbeitete sie als Schauspielerin u.a. am „Neuen Deutschen Theater“.
Ab Herbst 1937 in Wien, spielte im „Modernen Theater“. Ein En¬
gagement am „Theater in der Josefstadt“ machte der Einmarsch der
Nazis zunichte. Im Protektorat Böhmen und Mähren wurde beim
ersten Standrecht ihr Mann, der Regisseur Otto Waldmann, hinge¬
richtet. Nach dem Krieg war sie als Helena Tomanova tschechische
Bühnen- und Filmschauspielerin. 1951 Heirat mit Mikulds Weis,
einen ehemaligen Offizier der Westarmee, der als politisch Verfolgter
Jahrelang in einem Uranbergwerk zwangsverpflichtet war. In dieser
Zeit hatte Helena Tomanovd Auftrittsverbot in Prag und spielte bei
einem Wandertheater.

Von 1959 bis 1979 arbeitete sie als Redakteurin der deutschspra¬
chigen Auslandssendungen von Radio Prag, gestaltete literarische und
kulturelle Beiträge, dann als Übersetzerin. Nach 1989 entstanden
ihre literarischen Feuilletons zu Pragerdeutschen Schriftstellern wie
Max Brod, Hermann Grab, Egon Erwin Kisch u.a., in denen sie fern
jeder Sentimentalität die zerrissene Kontinuität der tschechischen,
deutschen, jüdischen Kultur poetisch dokumentiert.

1996 erschien ihr zweisprachiger Band „Setkäni v Praze/Begeg¬
nungen in Prag“, aus dem sie 1998 im Wiener Literaturhaus las und
im Gespräch mit Erich Hackl über ihr Leben und ihre Arbeit unter
den wechselnden politischen Bedingungen erzählte.

In MdZ sind mehrere Aufsätze von ihr erschienen, so „Maminka“
(Nr. 2/1998) und „Prag ist eine schöne Stadt“ (Nr. 3/1999). Helena
Tomanovd-Weisovd starb am 29. Jänner 2007 in Prag.

Erika Bezdickova: Mein langes Schweigen.
Mit einem Vorwort von Olga Sommerovä
und einem Nachwort von Rainer König¬
Hollerwöger. Aus dem Tschechischen von
Pavla Vänova. Wien: Verlag der Theodor
Kramer Gesellschaft 2013. 124 S. ISBN 978¬
3-901602-52-8. Euro 12,¬

Erika Bezdickovä
Mein langes Schweigen

„Es begann zu nieseln, und am schlimmsten
war es für die Frauen am Ende der Reihe,
denen das Wasser über die Schultern lief.
Erika war ganz durchnässt und bat mich,
mit ihr wenigstens für eine kurze Weile zu
tauschen. Ich stimmte zu, und so standen
wir noch recht lange und schauten in den
Himmel. Inzwischen fing man wieder mit
dem Abzählen an. Auf jede Dritte, Vierte oder
Fünfte zeigte die Aufseherin mit dem Stock,
die Blockälteste notierte die Nummer und die
Betreffende hatte aus der Reihe zu treten. Offenbar war das Lager überbelegt, man
musste Platz schaffen. Der Stock der SS-Frau traf auch Erika Kohn. Als ich sah, wie
die aussortierten Frauen zu den LKWs geführt wurden, wurde mir klar, dass sie für die
Gaskammer bestimmt waren. Erneut überwältigte mich die Verzweiflung.“

ferlag der
Theodor Kramer Gesellschaft

Erika Bezditkova, geboren 1931 in Zilina, schildert eindringlich die Diskriminierung
unter dem Tiso-Regime, ihren Leidensweg durch die nationalsozialistischen Konzen¬
trationslager und die Erfahrungen ihrer Rückkehr in die wiedererstandene Tschecho¬
slowakei.