Köpfen, die noch nie geschrieben haben“, alles stecke.
Als ihr eigenes großes Thema bezeichnet Zehra Cyrak die Men¬
schen an sich. Es ist deren Miteinander mit all seinen Nuancen
zwischen Liebe und Gewalt, das sie inspiriert und in ihren Texten
beschäftigt. Dass die Vielschichtigkeit ihres Werkes nicht immer
erkannt wurde, scheint ihr heute cher gleichgültig zu sein, im
Gegensatz zu früher, als sie sich oft gegen das Schubladenden¬
ken wehren wollte und musste, aufgrund dessen man sie in die
Kategorie „Migrationsliteratur“ einordnete. Diesem kann sie,
nunmehr über solchen Dingen stehend, folgendes aufschlussreiche
Gedankenspiel entgegensetzten: „Wenn man als Autor Texte in
Schubladen wie „Liebe“, „Politik“, „Migration“ und so weiter
stecken müsste, dann könnte ich in jede Schublade Texte stecken,
aber die wenigsten wären wirklich in der Migrations-Schublade.“
Formal bewegt sich Qyraks Schaffen in einem Raum zwischen Lyrik
und Prosa — was die Herangehensweise der Autorin widerspiegelt,
der, wie sie erzählt, schreibend gelegentlich eine Erzählung zu
einem langen Gedicht gerät oder umgekehrt. Die Texte heißen
dann zwar Gedicht, Prosaminiatur oder Erzählung, entzichen sich
aber häufig einer eindeutigen Gattungszuordnung — wie es bei
vielen guten Texten der Fall ist. Manchmal kommen sie auch dem
Aphorismus, dem Rätsel, der Aufzählung, sogar dem Stoßgebet
nahe, dann wieder dem Essay. Dass etwa die Zeilenbrüche der
oft prosaischen Lyrik Cyraks dennoch ihre volle Berechtigung
haben, zeigt sich in den Sinn-Ebenen, die sie schaffen, an der
Spannung, die sie aufbauen.
Des Weiteren tritt die Tatsache, dass vielschichtige Dichtung
nicht unbedingt komplizierter Worte bedarf, in diesen Gedichten
besonders zutage. Mittels Alltagssprache, die nur hin und wieder
mit ausgefallenerem Material angereichert wird, gelingt es Cyrak
Stimmungen zu erzeugen, Räume zu öffnen, zum Nachdenken
anzuregen.
Ihr Umgang mit der Sprache ist generell ein zwangloser, spiele¬
rischer, der mit gleichzeitiger Genauigkeit und Tiefgang verblüfft.
Oft sind es alte und bereits leer gewordene Redewendungen oder
Floskeln der deutschen Sprache, welche die Dichterin in unge¬
wohnte Zusammenhänge oder einfach umstellt und sie somit
wieder mit Sinn erfüllt. Sie tut dies ebenso wirkungsvoll, indem
sie die abgenutzten Sätze erbarmungslos bei den Worten, also
wörtlich nimmt. Oder sie bildet mit nur wenigen Strichen gleich
Tanja Dückers
Jürgen Walter
Als ich Jürgen Walter zum letzten Mal sah, zeigte er mir zwei
Werke, an denen er gerade arbeitete. Es beflügelte ihn sehr, wieder
arbeiten zu können. Sein Krankenbett befand sich mittig in seinem
Atelier in der großen, mit Werken von ihm und Sammelobjek¬
ten aller Art vollgestellten Wohnung in Berlin-Schöneberg, der
ihm liebste Ort auf Erden. Mehr als drei Jahrzehnte lebte er hier
mit seiner Frau zusammen. Zehra Cyrak, die bekannte Berliner
Schriftstellerin und Adelbert-von-Chamisso-Preisträgerin (2001)
war Jürgen Walters Frau. Als Kind kam sie aus der Türkei nach
Deutschland, Karlsruhe. Da lernten die beiden sich später kennen.
Sie kannten sich 36 Jahre lang.
neue Worte aus alten. So entstehen überraschende Bedeutungen,
die mal zum Lachen anregen, mal zeigen, dass manches leicht
Gesagte schon durch einen kleinen sprachlichen Dreh inhaltlich
stark an Schwere zunehmen kann.
Zudem ist es schwierig zu erahnen, wovon diese Lyrik — von
literarischer Seite her — beeinflusst ist. Von gängigen Bildern,
ausgedienten Klischees und altbekannten Wendungen fehlt hier
nämlich jede Spur. Und wenn sie sich doch finden sollten, er¬
wartet den Leser mittendrin gewiss ein unerwarteter, frischer
Fußabdruck. So eigenwillig ist dieses Werk also, dass Vergleiche
anzustellen fern liegt.
Es bleibt zu hoffen, dass Zehra Gyrak ihre bisherigen und noch
viele neu hinzukommende Leser auch in Zukunft mit einzigartigen
Gedichten und Geschichten beglücken wird.
Bücher von Zehra Cyrak
flugfanger. Gedichte. Karlsruhe: edition artinform 1987. 87.
Vogel auf dem Rücken eines Elefanten. Gedichte. Köln: Kie¬
penheuer & Witsch 1991. 94 S.
Fremde Flügel aufeigener Schulter. Gedichte. Köln: Kiepenheuer
& Witsch 1994. 136 S.
Leibesübungen. Gedichte. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2000.
1175S.
In Bewegung. Gedichte und Prosaminiaturen. Berlin: Verlag
Hans Schiler 2008. 112 S. Euro 17,¬
Der Geruch von Glück. Erzählungen. Berlin: Verlag Hans Schiler
2011. 180 S. Euro 17,90
Zehra Gyrak, Jürgen Walter: Die Kunst der Wissenschaft: Neun
mal drei Stühle zu Ehren der Wissenschaften. Berlin: Verlag Hans
Schiler 2013. e-book. 108 S.
Ina Ricarda Kolck-Thudt wurde 1992 in Feldbach geboren und
wuchs in Amstetten auf. Nach der Matura Umzug nach Wien. Seit
2011 studiert sie Sprachkunst an der Universität für angewandte
Kunst. Einige Veröffentlichungen im „Augustin“, der Wiener Stra¬
fsenzeitung. Zwei Gedichte von ihr wurden im Dezember 2013 in
„Jenny‘, der Anthologie des Instituts für Sprachkunst an der Universität
für angewandte Kunst Wien, veröffentlicht. In ZW erschienen in Nr.
2/2013, S. 24-26, ihr Essay „Woher damit?“ und in Nr. 2-3/2014,
5. 37-39, Gedichte.
Jürgen Walter schien mir etwas mager geworden zu sein, aber
von seinem Geist her wirkte er genauso barock und verspielt
wie eh und je. Man sagt über viele Menschen, dass sie sich kurz
vor ihrem Tod in sich zurückziehen, aber Jürgen Walter sprühte
vor geistiger Energie, stellte noch eine gute Woche vor seinem
Tod interessiert Fragen zu Aspekten der internationalen Politik,
zitierte amüsiert die Tagespresse und machte Scherze, begleitet
von seinem koboldhaften Lachen. Vor allem aber plante er weitere
Werkserien. Vor seinem Bett standen zwei wunderbare Arbeiten,
die dennoch schon ein wenig auf seine letzte Reise hinzudeuten
schienen: „Auf der Suche nach dem künstlichen Horizont“ heißt