Was genau macht das Werk von Jürgen Walter so besonders?
Jürgen Walter schafft wundersame Objekte, in denen Unver¬
einbares, Absurdes, Schmerzhaftes, Illusorisches, Verrücktes und
Beinahe Gleiches egalitär nebeneinandergesetzt wird. Er spielt mit
der Wirklichkeit, die bei ihm anderen physikalischen Gesetzen zu
gehorchen scheint, er präsentiert dem Betrachter realistische Ein¬
zelobjekte, die jedoch — wie die klassische Meerjungfrau - anders
enden, als sie begonnen haben, sich verwandeln ohne deutlich
zu machen, wer oder was sie eigentlich sind oder werden wollen.
Hier wird vor allem ein Wandel festgehalten, der jedoch keinem
äußerlichen Wandel — aus Wasser werde Wein - entspricht, hier
wird cher eine seelische Transformation festgehalten, Traum- oder
Alptraumfiguren, mit Armen und Beinen, Wasserhähnen oder
Pistolen an Körperstellen, wo man sie nicht vermuten würde,
Biomorphes und Technisches Nließt ineinander, es werden Sinn¬
zusammenhänge behauptet, die gar nicht existieren - zumindest
nicht in unserem Tagesbewusstsein. Über all dem schwebt etwas
Unheimliches, das Gefühl, auf einem Trip zu sein, einen eben
begonnenen Gedanken nicht auf die Weise zu Ende denken zu
können, die einem vorgeschwebt har.
Jürgen Walter verlässt sich hierbei nicht auf Taschenspielertricks,
provoziert keine spektakulären Schocks — anders als andere Ob¬
jektkünstler zielt er nicht auf Überrumplung seines Gegenübers,
sondern auf Verführung — durchaus mit schlechten Absichten:
zum Beispiel mit der, dem Betrachter einen Teil seines Inneren
umzukrempeln, nach außen zu kehren, einen Teil, den dieser
vielleicht nicht so gern materialisiert auf einer Leinwand oder
einem Sockel - in Augenhöhe - gesehen hätte. Doch geht Walter
hierbei sehr subtil vor, sein Werk verwirrt und verändert vielmehr,
als dass es attackiert. Der verführerische Charakter wird durch
die „schön“ ausschenden Objekte, mit glatten Oberflächen und
oft in angenehmen Farben gehalten, unterstrichen. Es sei noch
angemerkt, dass diese Objekte handwerklich auf schr hohem
Niveau hergestellt werden — der Künstler baut in den meisten
Fällen (außer bei seinen kleinen Elementen oder wenn er objets
trouves einsetzt) eine Rohfigur, ein Skelett aus Holz, ummantelt
es mit Gitterdraht (außer bei sehr kleinen Objekten) und trägt
dann Kunststoffpaste darauf. Anschließend wird die Oberflä¬
che dieser Objekte bearbeitet, geschliffen und bemalt. Teilweise
handelt es sich dabei um Skulpturen, oft aber um Gemälde, aus
denen einzelne dreidimensionale Objekte herausragen, die in die
Bildoberfläche integriert sind.
Die „schönen“ Werke Walters schmeicheln dem Auge - bis es
weh tut, bis aus der schönen Kamera — so das Werk „Mit den
Augen eines Anderen“ - eine Pistole geworden ist. Aus dem Kon¬
trast zwischen farblicher und taktiler Harmonie (glatte, glänzende
Oberflächen) auf der einen Seite und entstelltem Sinn auf der an¬
deren entsteht ein ganz spezifischer (ästhetisch-)visueller Schmerz.
Ein schwer benennbares Unbehagen, das unter die Haut geht.
Oft geht Jürgen Walter zunächst vom Klar Verständlichen
aus — gern auch mit wissenschaftlichen, kulturhistorischen oder
mythologischen Rekursen (antike Themen). Nicht ohne Ironie
baute er zum Beispiel Brancusis berühmten „Flug“ in Miniatur¬
format in eines seiner Werke aus der Serie „Falsche Vögel“ ein. Mit
diesen Rekursen schafft er einen kommunikativen Einstieg für den
Betrachter, nimmt ihn gnädig an die Hand — um ihn dann sogleich
sich selbst zu überlassen. Die zunächst allgemein erscheinenden
Themen, die Jürgen Walter für seine Objektserien verwendet wie
„Höhenflug“, „Ich und ich“, „Falsche Vögel“, „Symmetrie“ etc.
vermitteln Vertrautes, um jäh ins Unvorhersehbare abzustiirzen.
Wenn man etwas über Jürgen Walter statuieren kann, dann, dass
das zu Erwartende bei ihm nie eintritt.
Nicht selten tauchen bei Jürgen Walter abgetrennte Gliedmaßen,
Torsi, Masken, Arme, Füße auf, werden mit derselben Akkuratesse
in eine Assemblage, in ein Relief eingebaut wie eine Pistole oder
ein Glas. Der Körper wird nie intakt, sondern immer nur noch in
fragmentierten Teilen, reduziert auf die wesentliche Funktion für
das jeweilige Werk, eingesetzt. Körperteile sind bei ihm Objekte wie
ein Schuh, ein Tisch oder ein Boot. Der Künstler überlässt nichts
sich selbst oder dem Zufall, sondern wirkt gestaltend, sezierend,
ordnend, gerade in dem er Unvereinbares, Widersprüchliches in
eine oft schmerzhaft erscheinende Synthese — eine höhere Ord¬
nung, eine Waltersche Welt mit anderen physikalischen Gesetzen
— zwingt. Dabei ist der Künstler omni- und null-präsent: Er zieht
die Fäden nach den Regeln einer anderen Schwerkraft und einer
anderen Zug- und Flichkraft, als wir es gewohnt sind, aber gleich¬
zeitig ist er in seinen Werken auch abwesend, er wirkt in ihnen fern
wie ein hohes kafkaeskes Gesetz. Manchmal taucht Jürgen Walter
auch überraschend selbst auf: er benutzt sich - beispielsweise sein