Jürgen Walter: Mit den Augen eines anderen
Gesicht - als Objekt, als Beispiel. Aber er wird nicht im engeren
Sinn persönlich. Dazu passt auch Jürgen Walters höchst knapp
gehaltene Biographie aus seiner Website http://www.juergen¬
walter.com/: Geboren 1940 in Frankfurt /a.M. Aufgewachsen in
Karlsruhe. Lebt seit 1982 in Berlin.
Länger fällt die alphabetische Aufzählung der vielen Orte aus,
an denen Jürgen Walter ausgestellt hat, von Prag bis nach Wien,
von Aschaffenburg über Wilhemshaven und Dublin bis nach New
York. Die Übersicht über sein Werk ist hingegen detailliert, mit
Farbabbildungen fast aller seiner Werke - ein wunderbares digitales
Archiv öffnet hier für den Interessierten seine imaginären Pforten.
Von Jürgen Walters Objekten geht - vielleicht ähnlich den frühen
Arbeiten von Max Ernst oder de Chirico - eine starke Präsenz und
enorme suggestive Kraft aus, der man sich nicht entziehen kann.
Und von der man sich verfolgt, bedrängt und bedroht fühlen
könnte. Wäre da nicht der Humor, der einem auch im Umgang
mit Jürgen Walter immer begegnet ist. Dieser ganz eigene Humor
des Jürgen Walter. Da finden sich Arrangements, Verschwisterun¬
gen und behauptete Sinnzusammenhänge, über die man grinsen,
einfach den Kopf schütteln muss. Wie der Mann mit dem Bauch
voller Schrauben, der in einer eigenartigen Verwunderung - als
sei er ein gläserner Mensch - sich selbst in den Bauch schaut. Da
wird manchmal ein Satz oder eine Wendung wie „Auf großem
Fuße leben“ beim Wort genommen und materialisiert — oft wird
unsere überkomplexe Wirklichkeit auf eine Weise radikal reduziert,
als hätte Jürgen Walter ausschließlich den Gedanken des Kindes
in sich selbst gelauscht, als er zu arbeiten begann. Da werden
Dinge so diebisch, so durchtrieben wörtlich genommen, bis man
versteht, das Verdrehte ist eigentlich unsere Weltwahrnehmung,
nicht das mit seiner Schlichtheit kokettierende Kunstwerk, dem
wir gerade gegenüberstehen. In der Serie „Symmetrie“ weist eine
Arbeit nichts Anderes als identische strahlend weiße „schöne“
Toilettenschüsseln aus. Wer muss denn bei „Symmetrie“ immer
gleich an Liebe, Geist und höhere Ordnungen denken?
So ist ein facettenreiches Gesamtkunstwerk entstanden, das sich
letztendlich dem Zugang durch Verrätselung ebenso wie durch
radikale Vereinfachung entzicht. „Auf und zu“ bedeutet zum einen
nur — fast in Kindersprache —, dass ein Wasserahn geöffnet und
geschlossen wird, verweist aber auch auf globale Kriege um Res¬
sourcen, auf machtpolitische Spiele um Leben und Tod. Angelockt
vom schönen Schein der handwerklich perfekt nachgebildeten zum
Teil hyperrealistischen Objekte, von den Phallussymbolen auf der
Tastatur einer Schreibmaschine in „Iraum der Sekretärin“ bis hin
zu den fleischigen Lippen des „Irinkers“ — steht der Betrachter im
Dickicht seiner Selbst, in einer begehbaren absurden, manchmal
verträumten, oft beängstigenden Innenwelt.
Dennoch, Jürgen Walter ist ein Gegenwartskünstler auf der
Höhe seiner Zeit gewesen, kein nostalgischer Dadaist oder gar ein
Surrealist. Sein Werk inkludiert dadaistische und surrealistische
Momente, um sie in einen zeitlosen Horizont auf der ewigen Suche
des Menschen nach sich Selbst als materialisierte Gedankensplitter,
als Blitzideen aus Holz, Kunststoff und Akrylfarben einzufangen.
Was die Resonanz auf sein ebenso umfangreiches wie vielgestal¬
tiges Werk angeht, kommt man nicht umhin zu konstatieren, dass
Jürgen Walter einer der meistunterschätzten deutschen Gegen¬
wartskünstler gewesen ist. Fernab von Moden des Kunstbetriebs
wie dem digitalen Hype, der Flut an quasidokumentarischen Ar¬
beiten in den letzten Jahren, der gegenwärtigen oft schr plakativen
„Politisierung“ oder der neuen gestisch-expressiv-hedonistischen
Malerei, ist er auf beeindruckende, geradezu halsstarrige Weise
sich selbst - und vielleicht noch dem frühen Max Ernst oder dem
jungen de Chirico — treu geblieben. Treu auch seiner Frau, die
erst 17 Jahre alt war, als sie Jürgen kennenlernte. All die Auf und
Abs des „wilden“ Berliner Künstlerlebens haben das Liebes- und
Künstlerpaar über die Jahrzehnte — anders als so viele andere
Künstlerpaare — nie auseinandergerissen.
Bei meinem letzten Besuch bat Jürgen Walter mich zum Schluss,
ihm einen Koffer zu bringen. Ich kroch unters Bett und fand einen
kleinen, braunen Hartschalenkoffer. Ich erwartete Zeichnungen,
Skizzen. Doch in dem Koffer lagen Fotos. Fotos von Zehra und
Jürgen. Voller Begeisterung zeigte mir Jürgen die Bilder. Zehra, mit
ihren kurzgeschnittenen schwarzen Haaren. Dunkle ausdrucksvolle
Augen. Zurückhaltend und gleichzeitig selbstbewusst. Der Satz,
den er am meisten wiederholte, lautete: „Ist sie nicht schön?“
Wenn ich an Jürgen Walter und Zehra zurückdenke, fallen mir
die harmonischen Nachmittage im kleinen, feinen Cafe „Kücük
Kanarya“ (türkisch für „Kleiner Kanarienvogel“) bei uns um die
Ecke im Prenzlauer Berg ein. Das Cafe gehörte Zehras jüngerem
Bruder Timur und war unser zweites Wohnzimmer. Gern luden
Jürgen und Zehra auch zu sich nachhause in ihr „Wohn-Muse¬
um“ ein, ihr fast vollständig in Schwarz und Weiß gehaltenes
verwinkeltes Reich, in dem sich immer noch Türen und Räume
fanden, die man gar nicht kannte. Dort wurde dann eine bunte
Mischung aus internationaler Küche offeriert —- und dazu eine
kongenial bunte Mischung an Gesprächen über Fledermäuse,
Gedichte, Botanische Gärten, die Auswahl bestimmter Farben,
über seltsame Flugobjekte in Jürgens Werk, über die Leitung von
Schreibwerkstätten, über zu niedrige Honorare, merkwürdige
Menschen, den Sinn von Kriegseinsätzen, den Rückblick auf
West-Berlin vor der Wende, den Ausblick auf ein gentrifiziertes
Berlin... und das Ganze gewürzt mit vielen, vielen Witzen.
Oft wird die besondere Zusammenarbeit mit Zehra Cyrak er¬
wähnt. Die Objekte von Jürgen Walter erhalten, insbesondere
bei gemeinsamen Performances, durch das gesprochene Wort im
wahrsten Sinne eine „Stimme“. Nie gerieten die Objekte Walters
zum rein illustrativen Anschauungsmaterial, nie gerieten die Ge¬
dichte Cyraks zum auditiven Beiwerk der Objekte. Jürgen Walters
Werk wurde der Öffentlichkeit in den letzten zehn Jahren oft
nur durch gemeinsame Auftritte mit der in dieser Zeit mehr im
Zentrum der medialen Aufmerksamkeit stehenden Zehra Gyrak