Befreiung vom Nationalsozialismus
In der Bezeichnung des 8. Mai als Tag der „totalen Niederlage“
(Wiener Burschenschaft Olympia) drückt sich die anhaltende Iden¬
tifizierung des freiheitlichen und völkisch-korporierten „Dritten
Lagers“ mit dem „Dritten Reich“ aus. Es sind — außerhalb der offen
neonazistischen Milieus — aber weniger der Nationalsozialismus
als dessen Kriegsziele und militärische Formationen, welchen man
sich bis heute verpflichtet fühlt. Mit dieser Pflichtversessenheit
stand das „Dritte Lager“ bis in die 1980er-Jahre nicht am Rand,
sondern im Zentrum österreichischer Vergangenheitspolitik, zu¬
mindest dort, wo sich diese nicht in der Opferlegende erschöpfte.
Erst in den frühen 1990er-Jahren geriet mit der herrschenden
Vergangenheitspolitik auch die offenste Apologetik des „Dritten
Reiches“ und der „Pflichterfüllung“ in Wehrmacht und Waffen¬
SS verstärkt in die Kritik. Auch wenn das „Dritte Lager“ seit
damals ein Rückzugsgefecht führt, ist es bis heute nicht bereit, die
Befreiung als solche zu sehen. Stattdessen versucht man seitens
Freiheitlicher mittels Hinweise auf angebliche und tatsächliche
Kriegsverbrechen alliierter Soldaten und deren „deutsche Opfer“
den Charakter des 8. Mai als Tag der Befreiung zu relativieren.
Daneben dient ihr nicht gänzlich unberechtigter Hinweis auf die
massenhafte Unterstützung des „Dritten Reiches“ bis zu dessen
„Zusammenbruch“ der nachträglichen Legitimation — als Argu¬
ment für den Nationalsozialismus und nicht gegen die ihm bis
zum Schluss anhängenden Massen.
Vom „Zusammenbruch“ zur „Umerziehung“
Zwischen 1997 und 2012 begingen Wiener deutsch-völkische
Korporationen den 8. Mai als Trauertag zu Ehren ihrer „toten
Helden“ am Heldenplatz, in der Folge mussten sie dem ofliziösen
„Fest der Freude“ weichen. 2004 ließ es sich der damalige Wiener
FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache nicht nehmen, eine — wie
es deutsche Neonazis formulierten — „Gedenkrede für die deut¬
schen Gefallenen des Krieges“ zu halten. Sieben Jahre später hätte
der mittlerweile zum Bundesparteiobmann aufgestiegene Strache
die korporierte Trauerfeier neuerlich als Redner beehren sollen - er
zog es angesichts des politisch-medialen Gegenwinds jedoch vor,
nicht zu erscheinen. Wie groß angesichts dieses opportunisti¬
schen Einknickens die Empörung im völkisch-korporierten Milieu
war, lässt sich etwa an einem Abwiegelungsversuch von Andreas
Mölzer erahnen: Er betonte, dass Strache „zu den Traditionen
seiner Gesinnungsgemeinschaft und zu deren weltanschaulichen
Grundpositionen [steht]. Das hat er — gerade im Hinblick auf die
national-freiheitlichen studentischen Korporationen — nicht nur
immer wieder klar und deutlich gesagt, sondern auch persönlich
gelebt. An den eingeforderten Distanzierungsritualen, mit denen
man Jörg Haider in den 90er-Jahren getrieben hatte, hat sich HC
Strache niemals beteiligt.“
Was man in Straches pennaler Burschenschaft Vandalia über den
8. Mai 1945 denkt, wird in einem Vorstellungstext dieser Verbin¬
dung deutlich: „Zwei Weltkriege [...] innerhalb von rund dreißig
Jahren zu verlieren, hätten weniger widerstandsfähige Völker nicht
überdauert. Die katastrophale militärische Niederlage sowie der
Verlust von mehreren Millionen Menschen und etwa der Hälfte
des deutschen Siedlungsgebietes haben tiefe Wunden hinterlassen.
[...] Die Siegermachte haben durch die so genannte Umerzie¬
hung erheblich dazu beigetragen, daß die guten alten Werte von
Ehre, Anstand, Tapferkeit und Treue verdächtig und verächtlich
gemacht wurden.“ Ähnlich gelagert ist eine Äußerung des Wiener
Klubobmannes und weiteren Vandalen Johann Gudenus: Bei
einer Gedenkfeier am Wiener Zentralfriedhof sprach er im März
2013 von der „Katastrophe des Zusammenbruchs von 1945“,
nach welcher sich „in Österreich eine Gesellschaft der Bünde und
Gewerkschaften entwickelt“ habe.
So stark die Identifikation mit dem „Dritten Reich“, so heftig die
Ablehnung der nachnationalsozialistischen Umwälzungen. Oder,
in den Worten der Wiener Burschenschaft Olympia: „Gleich nach
Kriegsende setzte die von den Siegern betriebene systematische
Umerziehung (reeducation) ein, die einen intensiven Wandel des
Denkens, der Empfindungen und Verhaltensweisen erreichen
wollte und auch erreichte. Alle Ideen und Überzeugungen, die
nach Meinung der Sieger zu der politischen, moralischen und
charakterlichen Korrumpierung der Deutschen geführt hatten,
sollten ein für allemal ausgerottet werden. [...] Die entstandene
geistig-kulturelle Bewußtsseinslücke wurde durch die Etablierung
der westlich-pluralistischen Gesellschaftsform ‚ausgefüllt‘.“ Weil für
das Gros der Burschenschafter die ideologische Gleichsetzung von
deutsch und nationalsozialistisch offenbar nach wie vor Gültigkeit
hat, werden die Versuche einer inhaltlichen Entnazifizierung als
Angriffe auf das Deutsche selbst geschen. Der alte völkisch-anti¬
liberale Antiamerikanismus erneuerte sich so als revanchistisches
Ressentiment gegen die (westlichen) Siegermächte, allen voran
die USA.
Die Wiener Alemannia beklagte 1962, dass 1945 der „Schwung“
der Jugend dadurch gebrochen worden sei, dass „nun alles Verbre¬
chen gewesen sei, der Kampf dafür, unserem Volk eine Stellung
zu geben, die seiner Leistung und Fähigkeit entspricht. [...] Nun
wurde alles unterdrückt, die Geschichte gefälscht, das deutsche
Volk als alleiniger Schuldiger hingestellt.“ Die Innsbrucker Sue¬
via sah 1958 die „Deutschen“ den „diabolischen Rachegelüsten
erbarmungsloser Feinde“ ausgeliefert, nach 1945 schienen ihr alle
„Werte und Ideale [...] vernichtet“ und „erstorben im düsteren
Grau einer trost- und hoffnungslosen Zukunft.“ Und noch 1968
hieß es in der Festschrift der Wiener Teutonia: „Der physische
und seelische Zusammenbruch des Jahres 1945 traf uns schwerer
als jegliche Not vergangener Zeiten.“ Zurück blieb „ein zerrisse¬
nes, gedrücktes und gedemütigtes Vaterland, eingekeilt zwischen
brutaler Diktatur des Ostens und westlicher Kulturverseuchung
durch fremdartig beherrschten Amerikanismus.“
Burschenschafter, die gemäß eines Grazer Arminen (1987) „das
Unglück des Jahres 1945, das ihnen die erreicht geglaubte Er¬
füllung ihrer Ideale raubte“, ertragen mussten, begriffen sich als
Besiegte, welche laut der Wiener Alemannia (1962) „die Rache